Das Bundesgericht befasste sich in seinem Entscheid vom 12. Juli 2022 (BGer 1C_650/2020, amtliche Publikation als BGE 148 II 417) mit der vorfrageweisen Überprüfung eines Zonenplans im Baubewilligungsverfahren. Das Bundesgericht setzte sich mit der Frage auseinander, ob die Gemeinde Klosters-Serneus vor der Erteilung von Baubewilligungen zwingend hätte prüfen müssen, ob die Zuteilung der Bauparzellen zur Bauzone noch gerechtfertigt war.
Sachverhalt
Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde: A. erhob Einsprache gegen drei in der Gemeinde Klosters-Serneus eingereichte Baugesuche betreffend die Erstellung von zwei Einfamilienhäusern und einem Mehrfamilienhaus. Die Gemeinde sowie daraufhin das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wiesen die Einsprachen bzw. die dagegen erhobenen Beschwerden ab. In der Folge führte A. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt das vorinstanzliche Urteil sowie die Baubewilligungen der Gemeinde Klosters-Serneus auf.
Erwägungen des Bundesgerichts
Vor Bundesgericht rügte A., die Erteilung der Baubewilligungen am letzten Tag vor dem vollständigen Inkrafttreten der Planungszone sei unvereinbar mit Art. 21 Abs. 2 i.V.m. Art. 15 Abs. 1 und Abs. 2 RPG. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass es sich bei den entsprechenden Bauparzellen um Flächen handle, die im Zusammenhang mit der bereits begonnenen Reduktion der Bauzonen wohl ausgezont werden müssten. Die von der Gemeinde erlassene Planungszone sei nur schrittweise in Kraft gesetzt worden, wodurch noch bis zum 19. März 2019 Baubewilligungen erteilt worden seien. Damit sei eine planerisch sinnvolle Reduktion der Bauzonen erschwert und deren Redimensionierung negativ präjudiziert worden, was im Widerspruch zum eidgenössischen Raumplanungsrecht stehe (E. 3.1).
Gemäss Art. 15 Abs. 1 RPG sind Bauzonen so festzulegen, dass sie dem voraussichtlichen Bedarf für 15 Jahre entsprechen. Überdimensionierte Bauzonen sind gemäss Abs. 2 zu reduzieren. Nutzungspläne werden im Falle einer erheblichen Veränderung der Verhältnisse überprüft und nötigenfalls angepasst (Art. 21 Abs. 2 RPG). Art. 21 Abs. 2 RPG liegt eine zweistufige Prüfung zugrunde: In einem ersten Schritt wird geprüft, ob eine erhebliche Veränderung der Verhältnisse vorliegt, welche eine Überprüfung der Nutzungsplanung nach sich zieht. In einem zweiten Schritt folgt nötigenfalls die Anpassung des Plans. Plananpassungen beurteilen sich anhand einer Interessenabwägung, bei der die Notwendigkeit einer gewissen Stabilität nutzungsplanerischer Festlegungen gegen das Interesse, die Pläne an eingetretene Veränderungen anzupassen, abgewogen wird. Ferner sind insbesondere «die bisherige Geltungsdauer des Nutzungsplans, das Ausmass seiner Realisierung und Konkretisierung, das Gewicht des Änderungsgrunds, der Umfang der beabsichtigten Planänderung und das öffentliche Interesse daran» zu berücksichtigen. Gemäss Bundesgericht sind im Rahmen der ersten Stufe geringe Anforderungen zu stellen: Wenn sich die Verhältnisse seit der Planfestsetzung geändert haben und diese Veränderung erheblich ist und die für die Planung massgebenden Gesichtspunkte betrifft, ist eine Überprüfung der Grundordnung angezeigt. Eine erhebliche Veränderung ist auf dieser Stufe bereits zu bejahen, wenn eine Anpassung der Zonenplanung im betreffenden Gebiet infrage kommt und die Rechtssicherheit sowie das Vertrauen in die Planbeständigkeit einer Plananpassung nicht zum Vornherein entgegensteht. Liegen diese Voraussetzungen vor, hat die Gemeinde die Interessenabwägung vorzunehmen und über eine allfällige Anpassung des Zonenplans zu entscheiden (E. 3.2).
In E. 3.3 setzt sich das Bundesgericht mit der vorfrageweisen Überprüfung eines Nutzungsplans auseinander. Nutzungspläne müssen bei ihrem Erlass angefochten werden, andernfalls ist eine vorfrageweise Überprüfung im Baubewilligungsverfahren grundsätzlich nicht mehr möglich. Eine Ausnahme davon besteht unter anderem in Fällen, in denen sich seit Planerlass erhebliche Veränderungen bei den tatsächlichen Verhältnissen oder den gesetzlichen Voraussetzungen ergaben, sodass die Planung möglicherweise rechtswidrig geworden ist. Ferner muss das Interesse an der Überprüfung oder Anpassung des Nutzungsplanes die Interessen der Rechtssicherheit und Planbeständigkeit überwiegen. Die Verpflichtung zur Reduktion von überdimensionierten Bauzonen (Art. 15 Abs. 2 RPG) stellt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung für sich allein genommen noch keine erhebliche Veränderung der Verhältnisse dar. Eine vorgezogene oder vorfrageweise Überprüfung der Nutzungsplanung bedarf weiterer Umstände, berücksichtigt wird beispielsweise «die Lage der Parzelle in der bestehenden Bauzone, der Grad der Erschliessung oder das Alter des Plans». Ferner kann in Gemeinden, die über einen erheblichen Anteil an Zweitwohnungen verfügen, das Inkrafttreten von Art. 75b BV am 11. März 2012 sowie des darauf basierenden Zweitwohnungsgesetzes und der Zweitwohnungsverordnung für eine vorgezogene bzw. vorfrageweise Überprüfung einer älteren Nutzungsplanung sprechen, sofern davon auszugehen ist, dass die Wohnbaunachfrage damit zurückgegangen ist. Mit der Revision des kantonalen Richtplans wurden die Bündner Gemeinden zur Überarbeitung ihrer Ortsplanung und insbesondere zur Anpassung der Wohn-, Misch- und Zentrumszonen an den Bedarf angehalten. Gemeinden, deren Wohn-, Misch- und Zentrumszonen voraussichtlich überdimensioniert waren, wurden zur Ausarbeitung einer Planungszone mit potenziellen Auszonungsflächen aufgefordert. Gemäss Art. 27 Abs. 1 Satz 2 RPG (wie auch gemäss Art. 21 Abs. 2 des bündnerischen Raumplanungsgesetzes [KRG/GR]) darf innerhalb einer Planungszone nichts unternommen werden, was die Nutzungsplanung erschweren könnte. Insbesondere die Bewilligung von Bauvorhaben darf weder rechtskräftigen noch vorgesehenen neuen Planungen oder Vorschriften widersprechen (E. 3.4).
Das Bundesgericht hält in E. 3.5 fest, dass in der Gemeinde Klosters-Serneus überdimensionierte Wohn-, Misch- und Zentrumszonen bestehen, welche zu reduzieren sind. Die Gemeinde beschloss am 3. Juli 2018 die Errichtung einer Planungszone mit dem Ziel eine Reduktion von Bauzonen ausserhalb und am Rand des weitgehend überbauten Gebiets zu überprüfen. Die Inkraftsetzung der Planungszone erfolgte zeitlich gestaffelt, weshalb bis zum 19. März 2019 dem Planungsziel entgegenstehende Bauvorhaben trotzdem bewilligt wurden, sofern kumulativ gewisse Voraussetzungen erfüllt waren. Die Erteilung der Baubewilligung setzte insbesondere nicht voraus, dass das Baugrundstück mit Blick auf seine Lage und die weiteren Umstände für eine Auszonung ungeeignet war.
In E. 3.6 setzt sich das Bundesgericht mit der Rüge des Beschwerdeführers auseinander, wonach die Erteilung der Baubewilligungen ohne vorgängige Anpassung der Grösse der Bauzonen dem bundesrechtlichen Gebot der Reduktion überdimensionierter Bauzonen (Art. 15 Abs. 2 RPG) zuwiderlaufe. Das Bundesgericht hält zunächst fest, dass sich die entsprechenden Parzellen zwar zum grössten Teil in der Wohnzone und somit in einer Bauzone befinden würden, jedoch eine erhebliche Veränderung der massgeblichen Verhältnisse stattgefunden habe. Bereits im Zeitpunkt der Bewilligungserteilung war klar, dass die Bauzonen der Gemeinde Klosters-Serneus nach Inkrafttreten der Änderung von Art. 15 RPG und der Zweitwohnungsgesetzgebung überdimensioniert seien (E. 3.6.1).
Das Interesse der Rechtssicherheit und des Vertrauens in die Planbeständigkeit, welche einer Anpassung der Nutzungsplanung entgegenstehen könnten, wurde vom Bundesgericht als gering eingestuft, schliesslich war die Nutzungsplanung im Bewilligungszeitpunkt beinahe 18 Jahre alt und hatte die in Art. 15 Abs. 1 RPG vorgeschriebene Dauer von 15 Jahren bereits überschritten. Das Bundesgericht wies sodann die vorinstanzliche Auffassung zurück, wonach eine Zuweisung zur Nichtbauzone der Parzellen aufgrund ihrer Lage, Erschliessung und Baureife mit grosser Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen gewesen sei. Zum einen befänden sich die Parzellen ausserhalb des bereits weitgehend überbauten Gebiets, zum anderen handle es sich um eine kleine, von den übrigen Bauzonen der Gemeinde isolierte Wohnzone. Daher könne die Zuordnung dieser Parzellen zu einer Nichtbauzone nicht zum Vornherein verneint werden. Die Erteilung der Baubewilligungen würde dem Ziel der Reduktion der Bauzonen zuwiderlaufen und ein negatives Präjudiz darstellen (E. 3.6.2).
Das Bundesgericht führt aus, dass angesichts der überdimensionierten Bauzonen, der Lage der Parzellen sowie des hohen Alters des Nutzungsplans zwingend eine Überprüfung der Zuweisung der Grundstücke zur Bauzone durch die Gemeinde hätte stattfinden müssen, bevor diese die Baubewilligungen erteilte. Die angefochtenen Baubewilligungen hätten nicht erteilt werden dürfen, da sie dem Sinn und Zweck der erlassenen Planungszone (Art. 27 RPG und Art. 21 KRG/GR) zuwiderlaufen. Das Bundesgericht betont, dass der Erlass einer Planungszone nicht dazu führen darf, dass die Gemeinde Baubewilligungen erteilt, welche sowohl Art. 15 RPG als auch der kantonalen Richtplanung widersprechen und die Reduktion überdimensionierter Bauzonen erschweren. Die erteilten Baubewilligungen stehen somit im Widerspruch zu Art. 15 RPG (E. 3.6.3).
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