Sachverhalt
Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde: A.A. und B.A. sind seit dem 12. Februar 2015 je hälftige Miteigentümer der Liegenschaften Nr. x, y und z. C. ist seit dem 1. Juni 2011 Eigentümer der benachbarten Liegenschaft Nr. q. Im öffentlich beurkundeten Dienstbarkeitsvertrag vom 15. Februar 1990 vereinbarten die damaligen Eigentümer ein Näherbaurecht jeweils zugunsten und zulasten der Grundstücke q, y und z, welches den Parteien das Recht einräumt, bis auf einen Meter an die gemeinsame Grenze zu bauen.
Am 15. Juli 2019 erteilte der Gemeinderat Glarus Nord C. die Baubewilligung für den Abbruch des bestehenden Gebäudes auf der Liegenschaft q und die Erstellung eines Mehrfamilienhauses unter Ausnützung des Näherbaurechts. Das Projekt hält einen Grenzabstand von 110 cm ein. Der Entscheid wurde vom Departement Bau und Umwelt des Kantons Glarus bestätigt und ist rechtskräftig.
A.A. und B.A. reichten am 24. Juli 2019 ein Schlichtungsgesuch bei der Schlichtungsbehörde des Kantons Glarus ein und beantragten ein (vorsorgliches) zivilrechtliches Verbot des öffentlich-rechtlich bewilligten Bauvorhabens von C. Das Kantonsgericht gab diesem Gesuch statt. Es hiess sodann die von A.A. und B.A. erhobene Klage gut und verbot die Ausführung des bereits bewilligten Bauvorhabens. Die dagegen erhobene Berufung von C. wurde vom Obergericht des Kantons Glarus gutgeheissen. A.A. und B.A. gelangten in der Folge ans Bundesgericht und beantragten die Aufhebung des obergerichtlichen und die Bestätigung des kantonsgerichtlichen Entscheids.
Erwägungen des Bundesgerichts
Strittig war die Auslegung eines im Grundbuch eingetragenen gegenseitigen Näherbaurechts.
Die Auffassung des Kantonsgerichts Glarus, wonach die Dienstbarkeit nur Wirkung entfalte, wenn es beiden Parteien möglich sei, von ihrem Näherbaurecht im gewünschten Umfang Gebrauch zu machen, wurde vom Obergericht zurückgewiesen. Offengelassen wurde die Frage, ob nach Treu und Glauben davon ausgegangen werden müsse, dass mit dem jeweiligen Näherbaurecht auch eine Abrückungspflicht des belasteten Grundstücks einhergehe. Es kam nämlich zum Schluss, dass ein rechtsgenüglicher Nachweis der Beschwerdeführenden, sie könnten ihr Näherbaurecht aufgrund des geplanten Bauprojekts nicht mehr ausüben, fehle (E. 3.1).
Die Beschwerdeführer argumentierten, laut Grundbucheintrag bestehe eine gegenseitige Verbindung zwischen Rechten und Lasten. Die Gegenseitigkeit der beiden Näherbaurechte sei damit erstellt und werde vom Obergericht auch nicht infrage gestellt. Die Grunddienstbarkeit beinhalte somit eine gegenseitige Duldungspflicht hinsichtlich der Ausübung des Näherbaurechts unter Einhaltung eines Grenzabstandes von 1 m durch den anderen Eigentümer. Wenn tatsächlich beide Parteien dieser Duldungspflicht nachkämen, würde dies jedoch zur Duldung eines baurechtswidrigen Zustandes führen, da der minimal vorgeschriebene Gebäudeabstand nicht mehr eingehalten würde. Entgegen der obergerichtlichen Auffassung könne diese Rechtswidrigkeit nicht durch die Einreichung eines Ausnahmegesuchs beseitigt werden (E. 3.2).
Ausgangspunkt für die Ermittlung von Inhalt und Umfang einer Dienstbarkeit ist gemäss Art. 738 Abs. 1 ZGB der Grundbucheintrag. Erst wenn der Wortlaut des Grundbuches unklar ist, wird auf den Erwerbsgrund zurückgegriffen (Art. 738 Abs. 2 ZGB). Insbesondere in Fällen, in denen sich der Eintrag auf die blosse Benennung der Dienstbarkeit beschränkt, bleiben meist auch die konkreten Rechte und Pflichten uneindeutig. Gibt auch der Erwerbsgrund nicht ausreichend Aufschluss über Inhalt und Umfang der Dienstbarkeit, so kann auf die Art, wie die Dienstbarkeit während längerer Zeit unangefochten und in gutem Glauben ausgeübt worden ist abgestellt werden (Art. 738 Abs. 2 ZGB) (E. 3.3.1).
Die Regelung der Grenz- und Gebäudeabstände im Kanton Glarus bestimmt sich anhand von Art. 51 bzw. Art. 52 des glarnerischen Raumentwicklungs- und Baugesetzes (RBG/GL). Der vorgeschriebene Grenzabstand beträgt vorbehältlich anderer nachbarrechtlicher Vereinbarungen 4 m (Art. 51 Abs. 1 RBG/GL). Hinsichtlich des Gebäudeabstandes hält Art. 52 Abs. 1 RBG/GL fest, dass bei offener Bauweise der Abstand von Gebäuden unter sich mindestens drei Viertel der Fassadenhöhe des höheren Gebäudes entsprechen muss, aber nicht weniger als 8 m betragen darf. Der Gemeinderat kann bei Gebäuden im bestehenden Dorfgebiet und im Rahmen von Sondernutzungsplänen Ausnahmen von diesen Abständen bewilligen, soweit keine öffentlichen Interessen entgegenstehen (Art. 52 Abs. 4 RBG/GL) (E. 3.4.2).
Mit dem eingetragenen Näherbaurecht darf näher an die Grenze des Nachbargrundstücks gebaut werden, als dies gesetzlich vorgesehen wäre. Anders als bei einer Baurechtsdienstbarkeit (Art. 675 Abs. 1 und Art. 779 Abs. 1 ZGB), baut die berechtigte Eigentümerin auf ihrem eigenen Grundstück und die belastete Eigentümerin ist zur Duldung der Unterschreitung des gesetzlichen Mindestgrenzabstandes verpflichtet. Räumen sich die Parteien ein gegenseitiges Näherbaurecht ein, so verpflichten sie sich dazu, jeweils ein Gebäude oder Teil eines Gebäudes der Gegenpartei in ihrem Abstandsbereich zu dulden (E. 3.5).
Das Bundesgericht hält fest, dass je nach Ausgestaltung des gegenseitigen Näherbaurechts ein baurechtlich vorgeschriebener Gebäudeabstand betroffen sein könnte. Die Einräumung von Näherbaurechten sei jedoch von vornherein ausschliesslich im gesetzlich zulässigen Rahmen möglich (Art. 6 Abs. 1 ZGB). Öffentlich-rechtliche Gebäudeabstände könnten daher eine gegenseitige Umsetzung des Näherbaurechts verunmöglichen. Es gelte daher, eine allfällige Kollision der gegenseitigen Rechte und Pflichten aufzulösen (E. 3.6).
Laut Bundesgericht schliesst die Sichtweise der Beschwerdeführer die beidseitige Umsetzung des Näherbaurechts aus, andernfalls hätten die ursprünglichen Vertragsparteien eine unvernünftige und sachwidrige Regelung getroffen. Im Regelfall ist jedoch davon auszugehen, dass die Vertragsparteien eine vernünftige und sachgerechte Regelung angestrebten. Die von den Beschwerdeführenden angeführte Abrückungspflicht müsste sich direkt aus dem Dienstbarkeitsvertrag ableiten lassen – dies ist vorliegend nicht der Fall, im Gegenteil: Im Zeitpunkt des Abschlusses des Dienstbarkeitsvertrags am 15. Februar 1990 befanden sich auf beiden Parzellen Gebäude, welche sich innerhalb des gesetzlichen Grenzabstandes befanden. Dies lässt auf eine Regularisierungswunsch der Parteien hinsichtlich des bestehenden Zustands schliessen (E. 3.6.2).
Das Bundesgericht bestätigt die Lehrmeinung, wonach in Fällen einer Kollision des (gegenseitigen) Näherbaurechts mit den baurechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften eine Privilegierung des Erstbauenden stattfinde und der Zweitbauende weiter von der Grenze abrücken müsse. «Insofern präjudiziere der Erstbauende die baulichen Möglichkeiten des Zweitbauenden, weil er nicht nur Dienstbarkeitsbelasteter, sondern gleichzeitig auch Dienstbarkeitsberechtigter ist und somit ein ihm von der Gegenpartei eingeräumtes Recht ausübe.» Wenn sich weder aus dem Vertragstext noch aus den (objektiv erkennbaren) massgeblichen Umstände eine dahingehende Abrückungspflicht ableiten lässt, dass beide Parteien gleichermassen von dem Näherbaurecht profitieren können, darf der Erstbauende sein Recht ausüben. Der nichtbauende Dienstbarkeitsbelastete darf der Realisierung des Gebäudes nicht mit dem Argument entgegentreten, die Nutzbarmachung seines Näherbaurechts bleibe ihm gestützt auf öffentlich-rechtliche Gebäudeabstandsvorschriften verwehrt (E. 3.6.3).
Das Bundesgericht legt in seinem Leitentscheid somit fest, wie ein gegenseitiges Näherbaurecht in der Praxis zur Anwendung gelangt. Zum einen darf die privatrechtliche Regelung nicht mit den zwingenden öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften in Konflikt stehen (vgl. Art. 6 Abs. 1 ZGB). Zum anderen ist die erstbauende Grundeigentümerin insofern privilegiert, als sie das eingeräumte Näherbaurecht voll ausnutzen darf und damit die baulichen Möglichkeiten ihrer Nachbarin unter Umständen erheblich einschränkt.
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